Lucien Gaudin

Während Don Camillo Negroni am Anfang dieser Campari-Cocktail-Serie in eifriger Auslegung der Historie als Haudegen bezeichnet wurde, kommen wir mit Lucien Gaudin zu einem Mann, der mit einem Degen focht – wörtlich, ohne jegliche Interpretation. Der Cocktail ihm zu Ehren trifft auch ins Schwarze.

Lucien Gaudin Cocktail

Macht eine gute Figur: Lucien Gaudin als Fechter auf der Planche.

Lucien Gaudin gewann bei den Olympischen Spielen 1924 und 1928 jeweils Doppelgold im Degen- und Florettfechten, was ihn vor dem Zweiten Weltkrieg zu so einer Art Michael Phelps seines Sports machte. Mutmaßlich besaß er auch einen besseren Getränkegeschmack als der US-amerikanische Wunderschwimmer – Doping betrieb Gaudin immerhin mit Cognac. An der Entstehung des Cocktails, der seinen Namen trägt, war er wohl dennoch nicht beteiligt.

Laut dem Buch Cocktails de Paris, das EUVS digital bereitstellt, hat ein gewisser Charlie den Cocktail erfunden und nach Lucien Gaudin benannt. Was der Fechtolympionike davon hielt, ist nicht bekannt. Der Jury des Championnat des Barmen professionels reichte es 1929 immerhin zu einem Coupe d’honneur. Vielleicht war Charlie in der Barszene seiner Zeit eine so feste Größe, dass er keinen Nachnamen brauchte. Leider wissen wir damit mehr über den Mann, dem er seine Kreation widmete, als über ihn selbst.

Was wir allerdings wissen: Charlie arbeitete zu der Zeit im Cheval Pie, einer gediegenen Rotisserie mitten in Paris mit Designerfassade. Das Cheval Pie belegte in den 1920ern das Erdgeschoss in einem wuchtigen Bau der Moderne in der Avenue Victor Emmanuel III (heute Avenue Franklin Delano Roosevelt). An jener Straßenecke zur Rue de Ponthieu liegt heute das Restaurant Villa Spicy, auf dessen Karte sich zwar Doraden-Ceviche und Wein findet, aber trotz des geschichtsträchtigen Ortes kein Cocktail – erst recht kein Lucien Gaudin. Während Charlies Wirkungsstätte im Strom des Jahrhunderts zu einer stylischen Anlaufstelle für Freunde nicht zu teurer mediterran-internationaler Küche mutierte, bleibt uns der Cocktail.

Lucien Gaudin Cocktail

Ob Lucien Gaudin ins Cheval Pie kam? Ob der ins Studium der Barkarte vertiefte Mann gleich hineingeht und einen Lucien Gaudin Cocktail bestellt?

Der Lucien Gaudin Cocktail braucht eigentlich gar keine Geschichte, um sich interessant zu machen. Er schmeckt einfach gut. Dank Cocktails de Paris ist das Rezept auch recht sicher überliefert, was es naturgemäß nicht vor experimentierfreudigen Neuinterpretationen schützt.

Lucien Gaudin
von Charlie aus dem Cheval Pie (um 1929)

4,5 cl London Dry Gin
1,5 cl französischer Wermut
1,5 cl Cointreau
1,5 cl Campari

Orangenzeste

Zutaten auf Eis verrühren, in eine kalte Coupette abseihen. Mit Orangenzeste garnieren.

Der hohe Ginanteil lädt zum Experimentieren mit der Basis ein. Etwas nobler darf’s gern sein, denn der Wacholderschnaps hält alles zusammen. Beefeater 24 ist ohne Bedenken eine gute Wahl. Zu frische Gins gehen ein bisschen unter. Als Wermut fand bei uns Noilly Prat seinen Weg ins Mixing-Glas. Auch hier sind viele Flaschen möglich. Französisch sollte es schon sein – allein, um der Historie kein Unrecht zu tun – und trocken, da der Cointreau Süße in den Cocktail bringt.

Lucien Gaudin Cocktail

Macht eine gute Figur: Lucien Gaudin im Glas.

Im Glas präsentiert sich der Lucien Gaudin sehr gradlinig, klar und von betörend leuchtendem Orangerot. Hier gibt es keine Finten, keine Konterriposten. In der Nase dominiert Orange – durch die Zeste, aber auch den Cointreau – gemeinsam mit einer likörigen Alkoholnote und einer zarten Weinigkeit. Im Mund im ersten Augenblich lieblich, mild mit deutlicher Cointreau-Orange vor schwebendem Gintergrund, voll und samtig am Gaumen, dann im Abgang zunächst wermutig bitter und schließlich mit der noch schärferen charakteristischen Campari-Bitterkeit, die lange auf der Zunge verweilt, aber nach und nach wieder süßeren Orangennoten weicht (wenn man überhaupt so lange zwischen den Schlucken verharrt).

Gefällig mit zarter Süße, prononciert fruchtig bis ölig orangig und appetitanregend bitter. Als Apéritif macht sich das ganz fantastisch. Touché!

Lucien Gaudin Cocktail

Gin, Cointreau, Wermut, Campari: großartiger Apéritif.

Image Credits: Patrick Schlieker, Bibliothèque nationale de France.

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